ADG Infoservice Arbeitsrecht 6/24

Die Tücken des bEM

Krankheitsbedingte Fehlzeiten nehmen zu – und mit ihnen die Bedeutung eines rechtssicheren betrieblichen Eingliederungsmanagements. Doch das bEM birgt Tücken: Von rechtlichen Anforderungen bis hin zu potenziellen Hürden im Kündigungsschutzprozess. Wie können Arbeitgeber die Herausforderungen meistern und gleichzeitig die Chancen nutzen? Unser Artikel gibt Ihnen praxisnahe Einblicke und wertvolle Tipps für ein erfolgreiches bEM.

I. Einleitung und rechtliche Grundlage

Seit einem Tiefstand im Jahr 2007 steigt die Anzahl der Krankheitstage von Arbeitnehmern im Jahresdurchschnitt kontinuierlich an, (IAB-Arbeitsvolumenrechnung, Statistisches Bundesamt (Destatis) 2024). Häufen sich bei einem Arbeitnehmer die krankheitsbedingten Fehlzeiten, sind Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet im Rahmen eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) Maßnahmen zu ergreifen, die weiteren Ausfallzeiten präventiv entgegenwirken. Dabei zeigt sich jedoch, dass solche bEM-Verfahren im Detail mitunter komplex und fehleranfällig sein können.

Die Rechtsgrundlage des bEM findet sich in § 167 Abs. 2 SGB IX. Ist demnach ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, ist der Arbeitgeber verpflichtet in Form eines bEMs zu eruieren, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt werden kann. Dabei verfolgt das bEM immer die Zielsetzung den Arbeitsplatz zu erhalten.

Umgekehrt hat der Arbeitnehmer selbst jedoch keinen aus § 167 Abs. 2 SGB IX erwachsenden Anspruch auf die Einleitung und Durchführung eines bEM. Dies mag mit Hinblick auf die entsprechende gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers zunächst widersprüchlich erscheinen. Das BAG stellte zuletzt jedoch mit Verweis auf die Systematik des SGB IX fest, dass „nicht jeder Pflicht des Arbeitgebers ein entsprechender Anspruch bzw. ein entsprechendes Recht des Arbeitnehmers [gegenüberstehe]“ und der Wortlaut des § 167 Abs. 2 SGB IX auch keinen Raum für die Begründung eines solchen Individualanspruchs des Arbeitnehmers zulasse, (BAG, Urteil vom 07.09.2021, NZA 2022, 257 Rn. 16 f.).

II. Anforderungen an das Verfahren

Gesetzliche Regelungen zu den Anforderungen an die Struktur und den Ablauf des bEM bestehen nicht. Laut Rspr. des BAG stellt das bEM ein nicht formalisiertes Verfahren dar, das den Beteiligten großen Gestaltungsspielraum im Rahmen eines unverstellten, verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozesses lässt, (BAG, Urteil vom 10. 12. 2009 – 2 AZR 198/09). Zugleich besteht jedoch eine Fülle an konkretisierender Rechtsprechung, die restriktive Auslegungstendenzen erkennen lässt und hohe Anforderungen an die ordnungsgemäße Durchführung eines bEM stellt. Die Einhaltung der Verfahrensanforderungen stellt für Arbeitgeber daher regelmäßig eine Herausforderung dar. Die folgenden Ausführungen sollen die von der Rechtsprechung entwickelten Verfahrensvoraussetzungen im Überblick darstellen:

1. Initiierung und Belehrung

In der Praxis führen erhöhte krankheitsbedingte Ausfallzeiten von Arbeitnehmern bereits unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu einem starken Interesse des Arbeitgebers, den gesetzlichen Verpflichtungen des § 167 Abs. 2 SGB IX nachzukommen und entsprechende Maßnahmen zur Abhilfe zu ergreifen. Regelmäßig wird daher das bEM durch den Arbeitgeber angeregt. Ein entsprechendes Initiativrecht des Arbeitgebers ist auch durch die Rechtsprechung anerkannt mitunter gefordert, (BAG, Urteil vom 22.03.2016, 1 ABR 14/14; BAG, Urteil vom 11/2014, 2 AZR 755/13).

Gesprächspartner des Arbeitgebers sind dabei gemäß § 167 Abs.2 Satz 1 SGB IX zunächst die Interessenvertretung, bei schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmern außerdem eine vorhandene Schwerbehindertenvertretung, während der betroffene Arbeitnehmer hinzugezogen und beteiligt wird.

Die Durchführung des bEM selbst hängt jedoch zwingend von einer Zustimmung des Arbeitnehmers ab. Dabei gehört eine Belehrung nach § 167 Abs. 2 Satz 4 SGB IX zu einem regelkonformen Bemühen des Arbeitgebers, die Zustimmung des Arbeitnehmers einzuholen. Die Belehrung soll dem Arbeitnehmenden die Entscheidung ermöglichen, ob er dem bEM zustimmt oder nicht. Wichtig ist dabei, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer eindeutig auffordert, mit ihm ein bEM-Verfahren durchzuführen (Einladung i.S.v. BAG, Urteil vom 12.02.2007, 2 AZR 716/06). Dem Arbeitnehmer muss erklärt werden, was ein bEM bedeutet. Er muss insbesondere darauf hingewiesen werden, was mit seinen datenschutzrechtlich besonders geschützten Gesundheitsdaten im Verfahren geschieht, (vgl. LAG Schleswig-Holstein, Urteil v. 22.09.2015, 1 Sa 48a/15) und dass eine diesbezügliche Einwilligung nur wirksam ist, wenn sie auf einer freien und widerrufbaren Entscheidung beruht, (BAG, Urteil vom 29.06.2017, 2 AZR 47/16). Die Belehrung muss zudem eine Darstellung der Ziele des bEM beinhalten. Dazu gehört eine Erläuterung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann, (BAG, Urteil vom 24.03. 2011, 2 AZR 170/10).

Seit der Neufassung des § 167 Abs. 2 Satz 2 SGB IX durch das am 10. Juni 2021 in Kraft getretene Teilhabestärkungsgesetz muss der Arbeitgeber die betroffenen Arbeitnehmer im Rahmen der Belehrung ferner auf das Recht hinweisen, zusätzlich eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen zu können. Die bei der Hinzuziehung einer Vertrauensperson eventuell entstehenden Kosten hat allerdings der Arbeitnehmer zu tragen.

Verweigert der Arbeitnehmer die Zustimmung, darf das Verfahren nicht begonnen bzw. weitergeführt werden. Dieser Vorbehalt ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Arbeitnehmers. Der Arbeitgeber hat, wenn er zuvor seiner Informationspflicht ordnungsgemäß nachgekommen ist, seine Pflicht erfüllt. Erteilt der Arbeitnehmer jedoch später ausdrücklich die Zustimmung, beginnt die Pflicht zur Durchführung erneut.

2. Zusammensetzung des bEM-Teams

Das bEM-Team besteht verpflichtend aus einem Vertreter des Arbeitgebers (häufig ein Mitglied der Personalabteilung) und einem Vertreter der Interessenvertretung. Bei Fällen mit schwerbehinderten Arbeitnehmern ist zudem die Vertrauensperson über den weiteren Prozess hinweg zu beteiligen.

Fallbezogen kann es sich zur Beratung des Teams auch anbieten, weitere interne oder externe Experten hinzuzuziehen, bspw. einen Arbeitsmediziner oder auch ein Vertreter des Rehabilitationsträgers (Krankenkasse, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Agentur für Arbeit) sowie ggf. Fachkräfte des Integrationsamts.

3. Das bEM-Gespräch

Zentraler Bestandteil des BEM sind die BEM-Gespräche. Bei der Durchführung ist ein strukturiertes und stichhaltig dokumentiertes Vorgehen wichtig. Regelmäßig wird durch die Rechtsprechung die Notwendigkeit der Gestaltung in Form eines „organisierten und ergebnisoffenen Suchprozesses“ hervorgehoben, (so z.B.: BAG, Urteil vom 10.12.2009, 2 AZR 400/08; LAG Niedersachsen, Urteil vom 13.09.2018, 6 Sa 180/18; ArbG Berlin, Urteil vom 16.10.2015, 28 Ca 9065/15).

Zunächst sollte ein Erstgespräch stattfinden. Dieses erfolgt entweder mit dem bEM-Verantwortlichen allein oder gemeinsam mit weiteren Beteiligten (Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung). Ziel dieses Gesprächs ist es, zu erörtern, welche Gründe es für die Fehlzeiten gibt und ob diese Krankenzeiten ursächlich mit den Arbeitsbedingungen in Zusammenhang stehen. Ebenfalls ist er möglich, bereits zu diesem Zeitpunkt einen Betriebsarzt oder weitere Experten in das Gespräch mit einzubeziehen. Der Hinweis auf die Gefährdung des Arbeitsverhältnisses durch Fehlzeiten im Gespräch ist zulässig, um dem Arbeitnehmer deutlich zu machen, dass eine aktive Mitarbeit im bEM in seinem Interesse ist. Gleichwohl sollte gegenüber dem betroffenen Arbeitnehmer keine Drohkulisse entstehen, die eine Akzeptanz des Verfahrens beeinträchtigen könnte.

Das bEM-Gespräch sollte sodann erörtern, was für den betroffenen Arbeitnehmer mit dem betrieblichen Eingliederungsmanagement erreicht werden soll. Eine klare Zielsetzung innerhalb der bEM ist ratsam. Diese Zielsetzung sowie der Gesprächsinhalt hängt insbesondere davon ab, ob es sich um einen langzeiterkrankten Arbeitnehmer handelt oder ob häufige Kurzerkrankungen im Vordergrund stehen.

Bei Ersterem stellt sich die Frage nach dem aktuellen Gesundheitszustand und der Aussicht auf baldige Genesung, aber auch die Frage, ob die Einsatzfähigkeit des Arbeitnehmers voll wiederhergestellt oder eingeschränkt sein wird und wie sich die Einschränkungen auf die weitere Arbeit auswirken werden.

Bei häufigen Kurzerkrankungen steht die Frage nach deren Ursache im Vordergrund. Betriebliche Ursachen sind zu besprechen, aber auch die persönlichen Lebensumstände des Arbeitnehmers. Nach einer Analyse der Ursachen für die Erkrankung muss dazu übergegangen werden, Hilfsmöglichkeiten für den Arbeitnehmer zu besprechen.

4. Ende des bEM

Das bEM gilt grds dann als abgeschlossen, wenn die Fehlzeiten dauerhaft unter die Sechs-Wochen-Grenze des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gesunken sind. Ebenso kann das bEM dann enden, wenn die Beteiligten das Ende feststellen oder aber das Beschäftigungsverhältnis endet. Eine Grenze findet das bEM ferner dort, wo auch nach Ansicht kompetenter Berater wie dem Integrationsamt oder der Servicestelle keine Möglichkeiten mehr zur Wiedereingliederung des Arbeitnehmenden in das Arbeitsverhältnis oder zur Fehlzeitenreduzierung bestehen, (BAG, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565 / 14).

III. Besondere Relevanz des bEM im Kündigungsschutzprozess

Die Vorschriften zu krankheitsbedingten Kündigungen setzen eine erfolglose Durchführung eines bEM grds nicht voraus. Dennoch kommt der zuvor erfolgten ordnungsgemäßen Durchführung des bEM in Kündigungsprozessen regelmäßig eine entscheidende Bedeutung zu.

Grund ist, dass der Arbeitgeber in einem Kündigungsschutzprozess darzulegen und zu beweisen hat, dass die Kündigung verhältnismäßig ist. Erhebliches Bewertungskriterium ist dabei, dass es als Reaktion des Arbeitgebers auf die langanhaltende oder wiederholte Arbeitsunfähigkeit kein milderes Mittel als die Kündigung gibt. Dabei stellt das bEM regelmäßig ein solches milderes Mittel dar.

War der Arbeitgeber gem. § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, beeinflusst dies die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber kann sich dann nicht pauschal darauf berufen, es seien keine alternativen, dem Gesundheitszustand entsprechenden Einsatzmöglichkeiten vorhanden. Vielmehr muss er umfassend vortragen, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Dazu muss er konkret dartun, weshalb weder der weitere Einsatz des Mitarbeitenden am bisherigen Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Umgestaltung möglich war und der Mitarbeitende auch nicht an einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können. Außerdem muss er dazu vortragen, warum künftige Fehlzeiten auch nicht durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger in relevantem Umfang hätten vermieden werden können.

Die Beweisführung ohne Nachweisbarkeit eines zuvor erfolglos durchgeführten bEM führt damit zu einer erheblichen prozessualen Hürde für den Arbeitgeber. In der Praxis gelingt dem Arbeitgeber in diesem Fall die Darlegung der Aussichtslosigkeit eines bEM häufig nicht, mit dem Resultat eines Unterliegens im Kündigungsschutzprozess, (BAG, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565 / 14; BAG, Urteil vom 13.05.2015, 2 AZR 565/14; BAG, Urteil vom 21.11.2018, 7 AZR 394/17; LAG Hamburg, Urteil vom 08.06.2017, 7 Sa 20/17).