Arbeitsunfähigkeits­bescheinigung

Die Erschütterung des Beweiswerts von Bescheinigungen zur Arbeitsunfähigkeit

In der betrieblichen Praxis kommt es nicht selten vor, dass sich Beschäftigte im Zusammenhang mit einer Kündigung krankmelden und dann teilweise bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses krankheitsbedingt der Arbeit fernbleiben. In vielen Fällen wird es keinen Grund geben, an einer solchen Krankmeldung zu zweifeln. Insbesondere der unerwartete Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung kann beim Arbeitnehmer zu psychischen Belastungssituationen mit Krankheitswert führen. Die Praxis kennt aber auch andere Fälle.

Zahlreiche jüngere arbeitsgerichtliche Entscheidungen zu dieser Thematik verdeutlichen, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zunehmend über das Vorliegen „echter“ Arbeitsunfähigkeit und damit verbunden der arbeitgeberseitigen Pflicht zur Lohnfortzahlung gem. § 3 EFZG streiten. Ausgangspunkt dieser Rechtsprechungsentwicklung ist eine Entscheidung des BAG aus September 2021, mit der der 5. Senat den Beweiswert ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen („AUB“) bei Vorliegen besonderer Umstände modifiziert hat.

Rechtliche Grundlagen der AUB

Nach § 3 I 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer, der infolge einer Krankheit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung unverschuldet verhindert ist, gegenüber dem Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung.

Möchte ein erkrankter Arbeitnehmer den Anspruch auf Entgeltfortzahlung gem. § 3 I 1 EFZG geltend machen, so muss er die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm darlegen und ggfs. auch beweisen. Der Beweis kann i. d. R. mittels Beibringung einer AUB geführt werden (§ 5 I 2 EFZG). Eine ordnungsgemäß ausgestellte AUB ist somit das gesetzlich vorgesehene und bedeutendste Beweismittel für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit.

Dass der besondere Beweiswert einer AUB gesetzlich anerkannt ist, zeigt sich u. a. daran, dass § 7 I Nr. 1 EFZG dem Arbeitgeber ein Leistungsverweigerungsrecht bei der Bezahlung einräumt, bis der Arbeitnehmer die AUB vorlegt. Zwar begründet die AUB keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich vorliegenden Arbeitsunfähigkeit i. S. d. § 292 ZPO, jedoch kommt ihr ein hoher Beweiswert zu.

1. Der Beweiswert der AUB

Hat der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mittels einer AUB nachgewiesen, genügt dem BAG zufolge ein bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, um den Beweiswert der AUB zu erschüttern. Dies erfordert vielmehr, dass der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen, sodass der AUB kein entsprechender Beweiswert mehr zukommt. Tatsachen, die den Beweiswert erschüttern, können sich hierbei auch aus dem Sachvortrag des Arbeitnehmers ergeben.

2. Erschütterung des Beweiswerts einer AUB

Zur Erschütterung des Beweiswertes einer AUB fordert das BAG, dass ernsthafte sowie objektiv begründete Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit vorliegen. Grundsätzlich kann sich die Erschütterung des Beweiswertes einer AUB dem BAG zufolge aus der Bescheinigung selbst (a.) oder aus den tatsächlichen Umständen (b.) ihres Zustandekommens ergeben.

Die Rechtsprechung hat über die Zeit mehrere Fallgruppen herausgebildet, wann ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der ärztlichen AUB angenommen werden können. Jedoch kommt es hierbei stets auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles an.

a. „Ungewöhnliche“ AUB / fragwürdige Art ihres Zustandekommens

Für die Erschütterung des Beweiswerts der AUB kann schon die Bescheinigung selbst Anlass geben. Dabei wird häufig ein Verstoß gegen die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) eine solche Annahme begründen. Dort sind vornehmlich die §§ 4 und 5 relevant.

Ganz aktuell hat auch das Bundesarbeitsgericht derartige Verstöße gegen die AU-RL zur Begründung der Beweiswerterschütterung aufgegriffen und die Anforderungen hieran konkretisiert (Bundesarbeitsgericht, Urt. v. 28.06.2023 – 5 AZR 335/22).

Stellt beispielsweise der Arzt eine AUB aus, ohne den Arbeitnehmer zuvor untersucht zu haben, beeinträchtigt liegt ein Verstoß gegen § 4 Abs. 5 S. 1 AU-RL vor und der Beweiswert der AUB ist in aller Regel erschüttert.

Grundsätzlich soll die AUB auch keine Arbeitsunfähigkeit attestieren, die vor der erstmaligen ärztlichen Inanspruchnahme liegt. Ausnahmsweise ist bei gewissenhafter Prüfung eine Rückdatierung von bis zu drei Tagen zulässig. Wird auch dieser Zeitraum überschritten, so allein dieser Umstand dazu führen, dass der Beweiswert einer AUB erschüttert wird, da hierdurch gegen § 5 Abs. 3 S. 2 AU-RL verstoßen wird (so auch LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 13.01.2015 – 8 Sa 373/14).

Nach § 5 Abs. 4 S. 1 AU-RL soll eine Arbeitsunfähigkeit überdies im Grundsatz nicht für einen Zeitraum bescheinigt werden, der mehr als zwei Wochen im Voraus liegt. Nur wenn es aufgrund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht ist, kann eine AUB gem. § 5 Abs. 4 S. 2 AU-RL bis zur voraussichtlichen Dauer von einem Monat bescheinigt werden. In Anwendung der Grundsätze des Bundesarbeitsgerichts vermag auch ein hiergegen gerichteter Verstoß den Beweiswert der AUB erschüttern.

b. Verhaltensweisen des Arbeitnehmers

Auch das Verhalten der Arbeitnehmer in Verbindung mit einer (formell) nicht zu beanstandenden AUB kann Anlass für ernsthafte und objektive Zweifel am tatsächlichen Bestehen der Arbeitsunfähigkeit begründen. Dies beruht dabei oftmals auf einer Gesamtschau verschiedener einzelner Vorkommnisse, die sowohl unmittelbar vor oder während der attestierten Arbeitsunfähigkeit eintreten können.

Ganz typisch für derartige Sachverhalte ist das „Krankfeiern“ oder „Selbstbeurlauben“ mittels AUB. Dabei muss die AUB nicht einmal angekündigt sein, sondern kann sich auch aus den Gesamtumständen ergeben (Einreichung einer AUB immer nach dem Superbowl oder am 11.11. zu Karneval; Einreichen einer AUB für den Zeitraum, für den ein Urlaubsantrag gestellt aber zurückgewiesen wurde).

In der bereits angesprochenen Entscheidung vom 08.09.2021 entschied das Bundesarbeitsgericht darüber hinaus, dass der Beweiswert einer AUB dann erschüttert sein kann, wenn zwischen der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit sowie dem Beginn und Ende der durch Eigenkündigung in Gang gesetzten Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz besteht. Ernstliche Zweifel an dem Bestehen der Arbeitsunfähigkeit werden insbesondere dann begründet, wenn die Arbeitsunfähigkeit zugleich mit der Kündigung bei der Arbeitgeberin abgegeben wird und den nach der Kündigung verbleibenden Zeitraum des Arbeitsverhältnisses „passgenau“ abgedeckt.

Diese Grundsätze konkretisierte nun auch das LAG Niedersachsen (LAG Niedersachsen, Urt. v. 08.03.2023 – 8 Sa 859/22) in seiner Entscheidung aus März 2023 und stellte klar, dass diese Grundsätze auch auf Kündigungen des Arbeitgebers Anwendung finden können, obgleich grundsätzlich anerkannt wird, dass eine arbeitgeberseitige Kündigung zu psychischen Belastungssituationen mit Krankheitswert führen kann.

Das LAG Niedersachsen arbeitete in seiner Entscheidung als zentrale Voraussetzung für die Erschütterung des Beweiswerts einer AUB die zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Zeitraum der (vermeintlichen) Arbeitsunfähigkeit heraus. Eine solche kann sogar bei einer arbeitgeberseitigen Kündigung zur Beweiswerterschütterung führen, wenn sich der Arbeitnehmer „postwendend“ nach Erhalt die Kündigung krankmeldet bzw. die AUB einreicht. Dem engen zeitlichen Zusammenhang steht auch nicht entgegen, wenn der Zeitraum der Kündigungsfrist lückenlos durch mehrere Aubs abgedeckt wird.

Kürzlich hatte zudem das LAG Schleswig-Holstein (LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 02.05.2023 – 2 Sa 203/22) im Rahmen seiner Abwägung der konkreten Umstände zusätzlich zur zeitlichen Koinzidenz auch konkreten Formulierung des (Eigen-)Kündigungsschreibens zur Begründung der Beweiswerterschütterung herangezogen. Aus dieser habe sich ergeben, dass die Klägerin bereits ab dem auf die Kündigung folgenden Tage nicht mehr zur Arbeit erscheinen werde. Die AUB ging dann auch wie angekündigt am Folgetag beim Arbeitgeber ein.

c. Grenzen

Allerdings erschüttert nicht allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben ist, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt, in der Regel ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (so auch das LAG Niedersachsen, s.o.).

So entschied auch das LAG Mecklenburg-Vorpommern im Februar 2023 (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 08.02.2023 – 3 Sa 135/22), dass objektiv mehrdeutige, plausibel erklärbare Sachverhalte grundsätzlich nicht zur Erschütterung des Beweiswertes einer AUB führen müssen. Das Vorliegen ernsthafter Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers erfordere vielmehr, dass nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers objektiv greifbare Tatsachen vorliegen, die feststellbar und ggfs. auch beweisbar seien.

Ebenjenes LAG Mecklenburg-Vorpommern entschied sodann auch im Juli 2023 (LAG Mecklenburg-Vorpommern Urt. v. 13.07.2023 – 5 Sa 1/23), dass der Beweiswert einer AUB nicht allein deshalb erschüttert sei, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Darüber hinaus lasse der Antritt einer rund zehnstündigen Bahnfahrt eines als Chefarzt beschäftigten Arbeitnehmers zum Familienwohnsitz zu Beginn der Erkrankung, um dort die Hausärztin aufzusuchen, nicht ohne Hinzutreten weiterer Umstände die attestierte Arbeitsunfähigkeit als fragwürdig erscheinen.

Diese Entscheidungen zeigen, dass der Anspruch an den Vortrag des Arbeitgebers im arbeitsgerichtlichen Prozess hoch bleibt. Ein Prozessrisiko kann daher auch bei Sachverhalten, denen ein „Geschmäckle“ nicht abgesprochen werden kann, nie ganz ausgelöscht werden.

3. Prozessuale Bedeutung des erschütterten Beweiswerts einer AUB

Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand.

Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag z. B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden.

Der Arbeitnehmer muss zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben (BAG, Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 15, juris = ZTR 2022, 116).

III. Die elektronische AUB

Seit dem 01.01.2023 existiert nach mehreren verschobenen Anläufen die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). Diese ist bei gesetzlich Versicherten grundsätzlich digital von Unternehmen selbst abzurufen, nachdem sie vom behandelnden Arzt an die zuständige Krankenkasse übermittelt wurde und dort zum Abruf bereitgestellt worden ist.

Das stellt einen Wandel von der bisherigen Vorlagepflicht des Arbeitnehmers hin zur Holschuld des Arbeitgebers dar. Was einfach klingt, hat sich in der Praxis in den ersten Monaten der Einführung durchaus als fehleranfällig erwiesen.

Hinzu treten auch handwerkliche Fehler in der gesetzlichen Ausgestaltung, wie etwa die fehlende Regelung zum Leistungsverweigerungsrecht bei Übermittlungsfehlern, da § 7 EFZG keinen Bezug zur Neuregelung in § 5 I a EFZG enthält. Der Digitalisierungsfortschritt betrifft allerdings nicht nur den Übermittlungsweg der AU-Bescheinigung, sondern seit Lockerung des Fernbehandlungsverbots für Ärzte 2018 vermehrt auch die Erlangung der AU-Bescheinigung über digitale Erkenntniswege (wie z.B. Videosprechstunde, App oder Onlineformular).

Obwohl die Pflicht zur Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung entfallen ist, werden Arbeitnehmer gut beraten sein, zur Vermeidung von Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber weiterhin außerprozessual als auch prozessual auf die AU-Bescheinigung in Papierform zurückzugreifen. Ihre beweisrechtliche Bedeutung wird vom BAG mit den normativen Vorgaben in § 5 I EFZG und § 7 I Nr. 1 EFZG begründet. Für die eAU gelten diese normativen Anknüpfungspunkte nicht. Sie ist auch aus Sicht des Gesetzgebers kein beweisrechtliches Äquivalent zur AUB in Papierform.

Ob derart erlangten AUBs der gleiche hohe Beweiswert zukommen kann, ist daher zweifelhaft und wird durch die Rechtsprechung der nächsten Monate erst noch zu prüfen sein. Da es deshalb bei gerichtlichen Streitigkeiten auch weiterhin unumgänglich sein wird, eine AUB in Papierform vorzulegen, gelten die vorstehenden Ausführungen in Bezug auf die Erschütterung des Beweiswerts bis auf weiteres fort.

Praxistipp und Rechtsirrtum des Monats:

Tim Schwarzburg gibt Praxistipps und klärt auf.