ADG Infoservice Arbeitsrecht 01/23

Die (elektronische) Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und ihr Beweiswert

Ist ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt, so ist dieser im Falle einer länger als drei Kalendertage andauernden Arbeitsunfähigkeit verpflichtet, eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, soweit der Arbeitgeber nicht von seinem Recht Gebrauch macht, eine kürzere Vorlagefrist festzulegen. Im Arbeitsvertrag können auch andere Fristen vereinbart werden. Kommt der Arbeitnehmer der für ihn geltenden Vorlagepflicht nicht nach, so berechtigt unter anderem dieser Umstand den Arbeitgeber gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 EFZG, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern.
Im Folgenden geben wir einen Überblick zu dem Beweiswert einer AU und klären Rechtsirrtümer auf, die mit der Einführung der elektronischen AU einhergehen.

Beweiswert einer AU

Die ständige Rechtsprechung des BAG hebt hervor, dass der ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zukommt und deshalb normalerweise vom Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden darf.

Aus der ärztlichen AU-Bescheinigung folge jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 292 ZPO. Der Arbeitgeber könne zwar den Beweiswert der AU-Bescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und gegebenenfalls beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukomme.

Hierfür genüge jedoch ein bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht. Hinsichtlich der Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswertes dürften jedoch keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, da der Arbeitgeber regelmäßig in seinen Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sei. 

Danach erfordert eine Erschütterung des Beweiswertes einer AU-Bescheinigung ernsthafte und objektiv begründete Zweifel an dem tatsächlichen Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Derartiges kann sich aus der Bescheinigung selbst ergeben oder aber auf tatsächlichen Umständen ihres Zustandekommens beruhen.

Umstände, die den Beweiswert einer AU erschüttern können, können z.B. sein:

  • AU wird zeitgleich mit der arbeitnehmerseitigen Kündigung vorgelegt und die Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit deckt sich genau mit der verbliebenen Dauer des Arbeitsverhältnisses.
  • Auch eine Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungstag liegenden Tag sowie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit geben in der Regel Anlass, den Beweiswert der AU-Bescheinigung als erschüttert anzusehen.
  • Besonders dann, wenn der Arzt die Bescheinigung ausgestellt hat, ohne den Arbeitnehmer zu untersuchen, ist die der AU-Bescheinigung innewohnende Richtigkeitsvermutung zumindest erschüttert. Erfolgt überhaupt keine ärztliche Untersuchung, sondern wird die AU-Bescheinigung allein aufgrund der Angaben des Arbeitnehmers in einem online zur Verfügung gestellten Fragebogen ausgestellt, misst die Rechtsprechung einer solchen AU-Bescheinigung keinen Beweiswert zu (es existieren jedoch gesetzliche Ausnahmen zu telefonischen Krankmeldungen während der Corona-Pandemie).
  • Auch Verhaltensweisen des Arbeitnehmers können Anlass geben, dass die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, wie sie sich bisher aus der AU-Bescheinigung ergibt, erschüttert wird. Dies etwa dann, wenn ein Arbeitnehmer seine Krankmeldung für den Fall androht, dass er an einem bestimmten Tag eine gewünschte Arbeitsbefreiung nicht erhält.
  • Auch wenn ein Arbeitnehmer nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber den Betrieb verlässt und in den folgenden zwei Monaten AU-Bescheinigungen von fünf Ärzten vorlegt, die er zeitlich lückenlos jeweils wegen anderer Beschwerden konsultiert hat, erschüttert dies den Beweiswert einer ärztlichen AU-Bescheinigung.

Elektronische AU

Mit einem Jahr Verzögerung ist die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum 1.1.2023 eingeführt worden. Sie löst damit den „Gelben Schein“ – die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) in Papierform – ab. Nach Krankmeldung und dem Arztbesuch des Arbeitnehmers werden die AU elektronisch von der Krankenversicherung zum Abruf bereitgestellt und können durch den Arbeitgeber elektronisch abgerufen werden.

Durch den Wegfall der AU in Papierform ab dem 01.01.2023 müssen Arbeitgeber ihre bisherigen Prozesse neu bewerten. Zukünftig müssen Arbeitgeber proaktiv auf Grundlage der Krankmeldung der Arbeitnehmerin die AU-Daten bei der Krankenkasse über das Entgeltabrechnungssystem, eine Ausfüllhilfe oder ein zertifiziertes Zeiterfassungssystem abrufen. Sobald eine Krankmeldung erfolgt ist, müssen Maßnahmen ergriffen werden, damit diese Information kurzfristig das Lohnbüro erreicht.

1. Anzeigepflicht besteht weiterhin

Das neue Vorgehen befreit die Arbeitnehmer nicht von ihrer Pflicht, sich unverzüglich bei der Arbeitgeberin krank zu melden und die voraussichtliche Dauer der Krankschreibung mitzuteilen. Hierauf sollten Arbeitgeber die Arbeitnehmer hinweisen.

2. Papierhafte AU kann weiterhin vorgelegt werden

Ein reibungsloser Übergang zur elektronischen AU-Bescheinigung ist unwahrscheinlich, daher ist zunächst vorgesehen, dass behandelnde Ärzte weiterhin AU-Bescheinigungen in Papierform ausstellen, die der Arbeitgeberin vorgelegt werden können.

Ausweislich der Gesetzesbegründung ist es die Papierbescheinigung, die aus Sicht des Gesetzgebers das gesetzlich vorgesehene Beweismittel für die Arbeitsunfähigkeit sein soll. Aus diesem Grund soll dem Arbeitnehmer die Möglichkeit erhalten bleiben, das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für die Entgeltfortzahlung sowohl außerprozessual wie auch prozessual mit einer papierhaften AU-Bescheinigung nachweisen zu können.

3. Grundsätzlich kein Anspruch des Arbeitgebers auf Vorlage einer papierhaften AU

Wenn der Arbeitnehmer alles beachtet hat, was im Rahmen des neuen Einreichungsprozesses von ihm erwartet wird, geht der nicht erfolgreiche Abruf der elektronischen AU-Bescheinigung zulasten des Arbeitgebers. Sollten bei der Übermittlung der Daten der Arbeitsunfähigkeit an den AG Fehler auftreten, oder der Krankenkasse selbst bei der Übermittlung Fehler unterlaufen, sodass sich die Frage stellt, ob ein (un-)entschuldigtes Fehlen des Arbeitnehmers vorliegt und der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hat. Ein unentschuldigtes Fehlen dürfte – sofern der Fehler nicht auf Veranlassung des Arbeitnehmers unterlaufen ist – nicht vorliegen. Der AN ist nach wohl herrschender Literaturmeinung im Störfall auch nicht dazu verpflichtet, die AU in Papierform beim AG einzureichen, vgl. § 5 I a 1 EFZG.

Falls ein Arzt aus technischen Gründen (noch) keine elektronische AU-Bescheinigung ausstellen kann, wird die AU-Bescheinigung wie zuvor ausgedruckt und muss an die Krankenkasse und den Arbeitgeber übermittelt werden.

Gesetzlich Versicherte bleiben zudem ausnahmsweise verpflichtet dem Arbeitgeber eine AU-Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 EFZG vorzulegen, wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt erfolgt ist, der nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt.

Stellt die Praxis nach dem Besuch des erkrankten Menschen technische Probleme fest, schickt die Praxis einen Ausdruck der elektronischen AU-Bescheinigung per Post an die Krankenkasse. Diese lädt die AU-Bescheinigung hoch und der Arbeitgeber kann diese abrufen.

4. Abruf nur auf Anlass / Zeitpunkt des Abrufs

Sobald die Daten von der Krankenversicherung eingestellt wurden und elektronisch bereitstehen, muss die Arbeitgeberin diese Daten selbst abrufen. Der Abruf ist jedoch nur gestattet, wenn sich die Arbeitnehmerin bei der Arbeitgeberin krankgemeldet hat – ein pauschaler oder regelmäßiger Abruf ist nicht erlaubt.

Die Abfrage der elektronischen Krankmeldung erfolgt anhand des ersten Tages der Arbeitsunfähigkeit. Soll jedoch eine Folgebescheinigung abgerufen werden, nutzt die Arbeitgeberin dazu das Datum des ersten Tages nach Ende der bisherigen Krankschreibung angeben.

Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen können innerhalb der Verjährungsfrist abgerufen werden.

5. Informationen der elektronischen AU

Aus der elektronischen AU kann die Arbeitgeberin die folgenden Informationen entnehmen:

  • Name der Arbeitnehmerin
  • Beginn und Ende der Arbeitsunfähigkeit
  • Datum der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit
  • Kennzeichnung als Erst- oder Folgemeldung
  • Angabe, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Arbeitsunfähigkeit auf einem
  • Arbeitsunfall oder sonstigem Unfall oder auf den Folgen eines Arbeitsunfalls oder sonstigen Unfalls beruht.

Abrufbar sind Bescheinigungen über:

  • Arbeitsunfähigkeit vom Vertragsarzt oder Zahnarzt
  • Arbeitsunfähigkeit bei Arbeitsunfällen
  • Stationärer Aufenthalt im Krankenhaus


Nicht abrufbar sind demnach Bescheinigungen über/von:

  • Privatärzten
  • Erkrankungen und Ärzten im Ausland
  • Rehabilitationsleistungen
  • Privat krankenversicherte Arbeitnehmerinnen
  • Beschäftigungsverbote
  • Erkrankungen der Kinder
  • Stufenweise Wiedereingliederung
6. Mitbestimmung des BR

Die Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung ist eine gesetzliche Pflicht, die allenfalls kleine Spielräume für Mitbestimmungsrechte nach dem BetrVG, insbesondere § 87 Abs. 1 Nr. 1 (Ordnungsverhalten), Nr. 6 (Überwachungsmöglichkeiten durch IT-Systeme), Nr. 7 (Gesundheitsschutz) eröffnet.

7. Datenschutz und Speicherfrist

Die Zulässigkeit der Verarbeitung, damit auch der Speicherung, ergibt sich aus § 26 I BDSG. Wie lange die Speicherung der elektronischen AU-Bescheinigung zulässig ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Da im Fall einer krankheitsbedingten Kündigung zumindest die vergangenen drei bis fünf Jahre im Sinne der Rechtsprechung des BAG berücksichtigt werden müssen, ist die Speicherung zumindest für diesen Zeitraum zulässig.

8. Persönlicher Anwendungsbereich

Die elektronische AU erfolgt bei allen gesetzlich versicherten Arbeitnehmern.

Auch für Minijobber erfolgt der Abruf der elektronischen AU-Bescheinigung bei der zuständigen Krankenkasse. In der Regel ist bei Arbeitgebern die Krankenkasse der Minijobber bislang in den HR-Systemen nicht hinterlegt, weil ausschließlich mit der Minijobzentrale als zuständige Einzugsstelle kommuniziert wird. Daher ist es ratsam, dass Arbeitgeber diese fehlenden Informationen von den bei ihnen beschäftigten Minijobbern einholen und Angaben zur Krankenkasse bei Neueinstellungen abfragen. Sofern es eine Betriebsvereinbarung hierzu gibt, sollten auch hier Anpassungen dahingehend vorgenommen werden, dass Minijobber mit einbezogen werden.

Bisher ist vorgesehen, dass privatversicherte Arbeitnehmer von dieser Neuregulierung ausgenommen sind und daher weiterhin nach bisherigem Prinzip ihre AU-Bescheinigung selbstständig einreichen müssen.

9. Erschütterung des Beweiswerts

Weiterhin können Zweifel am Wahrheitsgehalt der eAU bestehen. Der Beweiswert kann durch den AG u.U. weiterhin erschüttert werden. In diesem Fall ändert sich nicht durch die Einführung der elektronischen AUB. Weiterhin kann eine AUB durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen überprüft werden. Sofern sich der Verdacht, dass es eine gefälschte AUB ist oder diese nicht richtig ist, bestätigen würde, kann dies abgemahnt werden und die Entgeltfortzahlung eingestellt werden.

Allerdings wird es für den Arbeitgeber mangels Nennung des behandelnden Arztes nunmehr praktisch schwieriger sein, verdächtige Auffälligkeiten zu erkennen, weshalb die Krankenkassen in solchen Fällen zukünftig von sich aus tätig werden müssten.

10. Verkürzung Vorlagefristen und Mitbestimmung des BR

§ 5 Abs. 1 Satz 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) eröffnet dem Arbeitgeber zum einen das Recht, die Vorlage einer AU-Bescheinigung schon für die ersten drei Tage der Arbeitsunfähigkeit zu verlangen (Erweiterung der Nachweispflicht). Zum anderen ist er berechtigt, den ärztlichen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit auch für Arbeitsunfähigkeitszeiten zu verlangen, die nicht länger als drei Tage andauern, etwa nur für eine eintägige Arbeitsunfähigkeit (Verkürzung der Vorlagefrist).

Für die elektronische AU-Bescheinigung gilt dies nach § 5 Abs. 1a S. 2 EFZG entsprechend, so dass Arbeitnehmer verpflichtet sind, das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer bereits zu dem vom Arbeitgeber festgelegten Zeitpunkt feststellen und sich eine ärztliche Bescheinigung aushändigen zu lassen.

Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats besteht hierbei in der Regel nicht (BAG, 15. November 2022, Az.: 1 ABR 5/22).

Zwar betreffe das Verlangen des Nachweises der Arbeitsunfähigkeit in einer bestimmten Form und ggf. innerhalb einer bestimmten Frist zwar grundsätzlich das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer. Allerdings handle es sich in diesem Fall nicht um einen kollektiven Sachverhalt: Es stehe grundsätzlich im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers, im Einzelfall die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits vor dem vierten Tag der Erkrankung zu verlangen. Ein kollektiver Bezug sei nicht schon deshalb gegeben, weil die Anordnung gegenüber mehreren Arbeitnehmern gleichlautend und in einer gleichmäßigen Form erfolgt.

Nur wenn der Arbeitgeber eine (selbst gesetzte) Regel vollzieht – etwa indem er das Verlangen gleichermaßen gegenüber allen Arbeitnehmern, gegenüber einer Gruppe von ihnen oder zumindest immer dann geltend macht, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind –, gestaltet er nach der Entscheidung des BAG die betriebliche Ordnung in kollektiver Art und Weise.

Für die elektronische AU-Bescheinigung gilt im Ergebnis nichts anderes.

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