Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die Arbeitszeiterfassung Pflicht ist. Die Begründung dieser Entscheidung liegt seit dem 05.12.2022 vor.
I. Einleitung
Regelungen zum Arbeitszeitrecht und zur Arbeitszeiterfassung finden sich im Arbeitszeitgesetz (Ar-bZG). Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf nach § 3 ArbZG acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
Zur Erfassung der Arbeitszeit findet sich nur in § 16 Abs. 2 ArbZG eine ausdrückliche Regelung:
Der Arbeitgeber ist nach § 16 Abs. 2 ArbZG verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in eine Verlängerung der Arbeitszeit gemäß § 7 Abs. 7 eingewilligt haben.
Aus dem nationalen Arbeitszeitgesetz resultiert in Deutschland somit bislang keine explizite direkte Pflicht zur Erfassung der gesamten täglichen Arbeitszeit. Vielmehr zielt die dortige gesetzliche Regelung lediglich auf die Erfassung von Überstunden ab.
Allerdings hat der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG zur Planung und Durchführung der Maßnahmen des Arbeitsschutzes im Sinne von § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine „geeignete Organisation“ zu sorgen und die „erforderlichen Mittel“ für Arbeitsschutzmaßnahmen bereitzustellen.
Aus dieser allgemeinen Vorschrift aus dem ArbSchG leitet das Bundesarbeitsgericht in seiner jüngsten Entscheidung vom 13.09.2022 nunmehr eine grundsätzliche Pflicht der Arbeitgeber zur Einführung eines „Zeiterfasungssystems“ her, welches Beginn, Ende und Unterbrechungen der Arbeitszeit erfasst.
II. Ausgangspunkt 2019
Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 und (ausgebliebene) Reaktion des nationalen Gesetzgebers
Im Sommer 2019 hatte der Europäische Gerichtshof mit seinem sog. Stechuhrurteil (EuGH, Urteil vom 14.05.2019, Az. C-55/18) festgestellt, dass Unternehmen nach EU-Recht die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer komplett zu erfassen hätten – egal, ob diese im Büro, im Außendienst oder von zu Hause aus arbeiten. Tragendes Argument für den EuGH war hierbei, dass nur so sichergestellt werden könne, dass sich ein Arbeitgeber an die Vorschriften hält, die die Arbeitnehmer schützen sollen (EuGH vom 14. Mai 2019 – Az. C-55/18 – CCOO).
Der EuGH hat dem nationalen Gesetzgeber bei der gesetzlichen Ausgestaltung der nationalen Pflicht zur Zeiterfassung aber einen recht weiten Gestaltungsspielraum zugestanden. Es obliege den Mitgliedstaaten, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems zu bestimmen und dabei gegebenenfalls den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs oder Eigenheiten und sogar der Größe betroffener Unternehmen Rechnung zu tragen.
Damit hat der EuGH sehr konkret Fragen zur Arbeitszeiterfassung aufgeworfen, die die deutsche Politik aber bisher nur unzureichend beantwortet hat. Zu einer Anpassung des deutschen Arbeitszeitrechts, nach dem eine Erfassung nur für solche Stunden erforderlich ist, die über 8 Stunden am Werktag hinausgehen (§ 16 Abs. 2 ArbZG), ist es jedenfalls bisher nicht gekommen. Damit blieb es für die Betriebe zunächst bei der Gültigkeit und Verbindlichkeit der deutschen Gesetzesregelung.
Auch die amtierende Ampel-Regierung hatte sich nicht für eine Verschärfung der Vorschriften bekannt. Im Koalitionsvertrag vom 10.12.2021 stand noch zu lesen, dass auch bei Anpassungen des Arbeitszeitrechts „flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein müssen.“ Darüber hinaus sieht der Koalitionsvertrag auch sehr konkret die Unterstützung von Entwicklungen weiterer flexibler Arbeitszeitmodelle vor.
III. Die überraschende Weiterentwicklung 2022:
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte nun jedoch über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines Systems zur einheitlichen elektronischen Arbeitszeiterfassung geltend machte.
Gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung
Mit Beschluss vom 13.09.2022 (Az.: 1 ABR 22/21) entschied das BAG dabei, dass die deutschen Arbeitgeber nach vorstehendem unionsrechtskonformem Verständnis des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gesetzlich verpflichtet sind, ein System zur Erfassung der von ihren Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden umfasst.
Die Kernaussagen des BAG:
- Das geforderte System darf sich nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu „erheben“. Diese Daten müssen vielmehr auch erfasst und nachhaltig aufgezeichnet werden.
- Die unionsrechtlichen Vorgaben erfordern dazu nicht ausnahmslos und zwingend eine elektronische Arbeitszeiterfassung. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen.
- Zudem ist es, auch wenn die Einrichtung und das Vorhalten eines solchen Systems dem Arbeitgeber obliegt, nach den unionsrechtlichen Maßgaben nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren.
- Die Arbeitszeiterfassungspflicht bezieht sich – wie für die Mitbestimmung nach § 87 BetrVG allein erheblich – auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG.
- Der nationale Gesetzgeber kann aber bestimmte Arbeitnehmer von der Arbeitszeiterfassungspflicht ausnehmen, weil die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann.
- Das BAG verweist insofern etwa auf die Ausnahmeregelungen der §§ 18 bis 21 ArbZG, die insbesondere leitende Angestellte, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, der Luftfahrt und der Binnenschifffahrt betreffen.
Mitbestimmung des Betriebsrats
Ein mitbestimmungsrechtliches Initiativrecht des Betriebsrats besteht nach der Entscheidung des BAG nicht in Bezug auf die Einführung – also in Bezug auf das „Ob“ – des Zeiterfassungssystems, wohl aber im Hinblick auf die Ausgestaltung – also das „Wie“ – der Arbeitszeiterfassung.
Solange (und so weit) der Gesetzgeber den ihm zustehenden Spielraum hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Arbeitszeiterfassungssystems nicht abschließend ausgeübt hat, können die Betriebsparteien und – im Fall ihrer fehlenden Einigung – die Einigungsstelle also nach Maßgabe des § 87 Abs. 2 BetrVG entsprechende Regelungen treffen.
Ihnen kommt insbesondere ein Gestaltungsspielraum dahingehend zu, in welcher Art und Weise – ggf. differenziert nach der Art der von den Arbeitnehmern ausgeübten Tätigkeiten – die Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit im Betrieb zu erfolgen hat.
Im Ergebnis könnte eine Einigungsstelle also sowohl über die Delegation an die Arbeitnehmer als auch über die „Technik“ der Zeiterfassung entscheiden.
IV. Praktische Bedeutung der Entscheidung für Vertrauensarbeitszeit
Die Entscheidung des BAG hat somit beachtliche Konsequenzen für die auch in zahlreichen Genossenschaftsbanken praktizierte Vertrauensarbeitszeit.
Vertrauensarbeitszeitmodelle sind in deutschen Unternehmen, insbesondere auch in Genossenschaftsbanken, weit verbreitet und lebten bislang gerade davon, dass die Arbeitszeit nicht erfasst wird. Auch infolge der Erfahrungen aus der Pandemie zunehmend akzeptierten Home-Office wurde auf eine enge Erfassung der Arbeitszeit bisher häufig verzichtet, da hier typischerweise betriebsübliche Kontrollmechanismen zugunsten einer erhöhten Flexibilität seitens der Arbeitnehmer sukzessive zurückgetreten sind.
Die gesetzliche Verpflichtung der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ein System zu etablieren, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann, beschränkt diese flexiblen Arbeitszeitmodellen ohne Arbeitszeiterfassung allerdings beachtlich.
Lage, Beginn, Dauer und Ende der tatsächlichen Arbeitszeit müssen erfasst, nicht nur erhoben werden. Daraus folgt konkret, dass die genaue Uhrzeit des Anfangs und das Ende der Arbeit notiert werden müssen. Eine pauschale Notiz, dass ein Beschäftigter acht Stunden gearbeitet und 30 Minuten Pause gemacht hat, reicht nicht. Auch die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems zur freiwilligen Verwendung dürfte nicht ausreichen. Die Zeiterfassung ist zumindest stichprobenartig zu kontrollieren.
Vertrauensarbeitszeit ist damit nicht grundsätzlich unzulässig. Nur die Ausgestaltung der Vertrauensarbeitszeit ist Beschränkungen unterworfen. Soweit es darum geht, irgendwann ohne Erfassung der Zeiten zu arbeiten, ist das nicht mehr zulässig. Soweit mit der Vertrauensarbeitszeit aber bezweckt wird, selbstbestimmt bei freier – gleichwohl aber erfasster – Zeiteinteilung zu arbeiten, ist das weiterhin zulässig.
V. Weitere Praxishinweise
Unternehmen sollten ihre regelmäßig praktizierten Arbeitszeitmodelle im Sinne einer Bestandsaufnahme überprüfen; die entsprechenden vertraglichen Regelungen sind auf die Arbeitszeiterfassung zu kontrollieren.
Arbeitszeitmodelle, die den vorstehenden Anforderungen genügen, können bis auf Weiteres ohne Änderung beibehalten werden.
Bei Arbeitszeitmodellen, die noch keine hinreichende Arbeitszeiterfassung vorsehen, als auch bei neuen Arbeitszeitmodellen sollten Arbeitgeber ein verlässliches System einführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden zu erfassen vermag.
Die Erfassung kann dabei elektronisch oder in Papierform erfolgen. Sie kann an die Arbeitnehmer delegiert werden. Wichtig ist, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern hierzu klare und Vorgaben macht und die erforderlichen, einfach zugänglichen Mittel bereitstellt.
In jedem Fall muss der Arbeitgeber zumindest stichprobenartig kontrollieren, ob die Arbeitszeiten wie vorgegeben dokumentiert werden. Auch die Kontrollmaßnahmen sollte der Arbeitgeber vorsorglich dokumentieren.
Arbeitgeber, die größtmögliche Rechtssicherheit bevorzugen, erfassen auch die Arbeitszeiten ihrer leitenden Angestellten.
Das BAG deutet zwar an, dass es gesetzliche Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassungspflicht geben kann, insbesondere nach §§ 18 – 21 ArbZG, also auch für leitende Angestellte. Weil das BAG hierüber letztlich aber nicht zu entscheiden hatte, ist höchstrichterlich nicht abschließend geklärt, wie weit der persönliche Anwendungsbereich der Arbeitszeiterfassungspflicht nun reicht. U.E. sprechen gewichtige Argumente dafür, dass leitende Angestellte ihre Arbeitszeiten nicht zu erfassen haben. Sie sind gem. § 18 ArbSchG ausdrücklich von den Regelungen des ArbZG ausgenommen, auf die auch das BAG verweist. Allerdings leitet das BAG die Arbeitszeiterfassungspflicht aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG her. Und anders als das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) gilt das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) eben auch für leitende Angestellte. Insofern verbleibt also eine Rechtsunsicherheit.
In Betrieben, in denen ein Betriebsrat errichtet ist, ist bei der Ausgestaltung des Arbeitszeiterfassungssystem, also im Hinblick auf die Frage „Wie“ die Arbeitszeiten erfasst werden sollen, ein mitbestimmungsrechtliches Initiativrecht des Betriebsrats zu beachten.
VI. Konsequenzen bei Verstößen
Bei Verstößen gegen die Arbeitszeiterfassungspflicht drohen zumindest nach derzeitiger Rechtslage keine unmittelbaren Geldbußen. Die Zeiterfassungspflicht resultiert aus § 3 ArbSchG, Verstöße hiergegen sind nicht nach § 25 ArbSchG Bußgeld bewehrt. Bußgelder können allerdings bei einer vorherigen Anordnung durch die zuständige Behörde im Sinne des § 22 Abs. 3 ArbSchG verhängt werden.
Eine fehlende Zeiterfassung dürfte sich aus Arbeitgebersicht aber negativ auf Rechtsstreitigkeiten über Überstundenvergütungen auswirken. So hat das BAG etwa bereits 2012 für Überstundenprozesse von Berufskraftfahrern, für die eine besondere gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht, Beweiserleichterungen anerkannt (BAG, Urteil vom 16.05.2012, Az. 5 AZR 347/11). Hier genügen Arbeitnehmer ihrer Darlegungslast bereits mit dem Vortrag, an welchen Tagen welche Tour wann begonnen und wann beendet wurde. Es sei dann Sache des Arbeitgebers, dies unter Auswertung seiner Aufzeichnungen – wenn er diese denn zur Verfügung hat – zu widerlegen. Es ist zu erwarten, dass diese Argumentation auch für andere Tätigkeiten fruchtbar gemacht wird.
Eine (vorsätzliche) Missachtung stellt aber in jedem Fall einen Compliance-Verstoß dar, der im Rahmen von Pflicht- oder Sonderprüfungen durchaus zu entsprechenden Feststellungen führen kann und wird.
VII. Ausblick
Letztlich bleibt es dabei, dass der Gesetzgeber dringend aufgerufen bleibt, die weiterhin offenen Fragen, insbesondere hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung und etwaiger Ausnahmen von der geforderten Arbeitszeiterfassung durch eine klare gesetzliche Regelung zu beantworten.
Erste Verlautbarungen nach dem 05.12.2023 aus dem Ministerium von Hubertus Heil lassen darauf hoffen, dass der Gesetzgeber in der ersten Jahreshälfte 2023 handeln wird.